von Thorsten Weiss, Tim Kutter, Artikel aus dem Archiv vom
Wie gehen Hochschulen mit den heterogenen Lebenswelten von Studierenden und den damit verbundenen unterschiedlichen Lernbedürfnissen um? Dozieren Lehrbeauftragte künftig allein in physischen Räumen? Welche Bedeutung kommt der Aufzeichnung von Lehrveranstaltungen zu? Was hat sich bei Auto-Tracking-Lösungen von Kamerasystemen in den vergangenen Jahren getan? Eine Bestandsaufnahme.
Aus Sicht der Autoren Thorsten Weiss und Tim Kutter kann man die Hochschulen in drei Kategorien einteilen: Hochschulen, die auf die heterogenen Lebenswelten ihrer Studierenden und dem damit verbundenen Wunsch nach räumlicher und zeitlicher Flexibilität im Kontext des lebenslangen Lernens kaum eingehen und bisher keine Aufzeichnungen von Lehrveranstaltungen anbieten (In- Person Learning, siehe Kasten, Punkt 1). Hochschulen, die zwar Kameras in den Hörsälen installieren, deren Bedienung und Qualität aber bildungstechnologisch nicht ausreichend sind, um konsequent Lehrveranstaltungen gleichzeitig in Präsenz und aus der Ferne im Sinne von
Hybrid Learning anzubieten (2). Und schließlich gibt es noch die Hochschulen, die hybride und Online-Lehre (3) professionell anbieten. Leider finden sich derzeit noch zu wenige Hochschulen in der dritten Gruppe wieder. Viele hängen noch im klassischen Präsenzmodell auf dem Campus fest – und schöpfen das Potenzial medientechnisch induzierter bildungstechnologischer Innovationen nicht aus (4).
Es gibt viele Gründe, warum sich noch ein Großteil der Hochschulen nicht in der dritten Gruppe befindet.
Beispielsweise haben viele Entscheidungsträger*innen Angst davor, nicht mehr als Präsenzhochschule gesehen zu werden, wenn digitale Bildungstechnologien und die Online oder hybride Lehre Einzug halten.
Generell mangelt es aber auch schlicht an Medien-(produktions)kompetenz (5) – speziell im Kontext der hybriden Lehre. Denn für die Aufzeichnung von Lehrveranstaltungen wurden gerne externe Dienstleistende beauftragt oder Medientechniker*innen, die diese Aufgabe zusätzlich zum Tagesgeschäft nicht leisten konnten. Es mangelt also an geschultem Personal.
Oft gibt es noch die Sichtweise, dass für ein paar Aufzeichnungen doch die Studierenden eine Kamera führen können. Jedoch wird niemand dauerhaft eine manuelle Kameraführung übernehmen wollen, wenn täglich Dutzende Vorlesungen aufgezeichnet werden.
Ebenso besteht ein falsches Verständnis von Mediendidaktik. Es herrscht die Meinung vor, dass die Aufzeichnung einer festen, meist totalen Einstellung des Raumes ausreichend ist, bei dem Dozierende extrem klein dargestellt werden (6). Die Abbildung „Vergleich der Bildausschnitte bei Aufzeichnung“ zeigt den Unterschied. Sobald auch Folien geteilt werden oder das Tafelbild erkannt werden soll, stellen variable Einstellungsgrößen, etwa Blickwinkel, unter denen Dozierende „abfotografiert“ werden, nicht nur einen dramaturgischen, sondern auch mediendidaktischen Mehrwert dar (7).
Nicht zuletzt haben einige Hersteller mit nicht zureichenden Auto-Trackingsystemen (etwa Erkennung auf Basis von Bildverarbeitung) die Vorbehalte der Medientechniker*innen verstärkt. Hier wurde viel Porzellan zerschlagen, da die versprochenen Funktionalitäten nicht ausreichend zuverlässig funktionierten. Ebenso hat es eine Vielzahl von Lösungen gegeben, die zu komplex waren. Dozierende sollen sich auf die Vorlesung konzentrieren und möchten nicht erst verschiedene Knöpfe drücken, ein Gesicht anlernen oder sich einen Medienwagen reservieren müssen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Es ist vollkommen in Ordnung, am Modell der Präsenzuniversität festzuhalten, jedoch muss die Vorlesung aufgezeichnet werden – und zwar professionell.
Flexible Strukturen für Hochschulen raum- und zeitunabhängig
Hochschulen müssen flexible Strukturen aufbauen, die zu den heterogenen Lebenswelten der Studierenden passen. Diese müssen unabhängig von räumlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen sein. Lebenslanges Lernen ist nicht an den Ort der Hochschule und an Veranstaltungszeiten gebunden, sondern kann und muss „nach außen“ verlagert werden.
Denn Studierende haben heute Anforderungen, die diese Strukturen verlangen. So ermöglicht eine ortsunabhängige Vorlesung zum Beispiel Rollstuhlfahrer*innen den barrierefreien Zugang zur Bildung. Zudem sind von den steigenden Wohnraumpreisen besonders Studierende betroffen, die sich vermehrt keinen Wohnraum in den Ballungsgebieten leisten können und teilweise mehr als eine Stunde bis zur Hochschule pendeln. Das ist zeitlich, aber auch finanziell eine Herausforderung, für die die Hochschulen eine Lösung bieten sollten, um weiterhin attraktiv für neue Studierende zu sein. Auch in Anbetracht der durch die (noch nicht ausgestandene) Corona-Pandemie und weiteren Krankheitswellen bedingten Kontaktbeschränkungen ist es elementar, dass die physischen Bildungsräume auf dem Campus weniger frequentiert werden und die Studierenden von zu Hause aus an Lehrveranstaltungen teilnehmen können.
Auch von der zeitlichen Abhängigkeit sollten sich neue Lehrkonzepte an Hochschulen lösen. Es gibt mannigfaltige Gründe: So sollten etwa Eltern berücksichtigt werden, die nur während der Kindergartenöffnungszeiten und in der Elternzeit nur von zu Hause aus an Lehrveranstaltungen teilnehmen können. Studierende, die gerade Deutsch lernen, möchten den sprachlichen Kompetenzerwerb in einem individuellen Tempo durchschreiten. Oder bei Studierenden, die eine Klausur wiederholen müssen, überscheiden sich die Lehrveranstaltungen aus dem vorigen mit jenen aus dem neuen Semester. Für eine optimale Prüfungsvorbereitung bieten sich deshalb Aufzeichnungen von Lehrveranstaltungen an.
Als weiterer Aspekt sei hier auch die Nachhaltigkeit genannt. Wenn täglich zehntausende Studierende für wenige Stunden an der Hochschule präsent sein müssen, wirkt sich das letztendlich negativ auf die CO2-Bilanz unserer Gesellschaft aus (8). Gerade junge Menschen achten bei der Studienplatzwahl zunehmend auch auf solche Aspekte. Des Weiteren ginge ein weiteres Wachstum der Studierendenzahlen, verbunden mit Präsenzlehre, mit der Notwendigkeit einher, neue physische Bildungsräume zu schaffen. Dabei ist ein großer Teil der Hörsäle nur zu Peak-Zeiten voll ausgelastet. Zu den Nebenzeiten werden diese nicht genutzt. Das klassische Modell stößt dabei an seine Grenzen.
Diverse Studien zur Mediendidaktik (9) weisen nach, dass ein optimales medientechnisches Setup direkten Einfluss auf den Lernerfolg hat. Das ist auch leicht verständlich: Man stelle sich vor, stundenlang nur PowerPoint-Folien und eine Audio-Spur erleben zu müssen. Es ist dabei schwierig, das Konzentrationsniveau aufrechtzuerhalten. Demgegenüber werden im optimalen Setup Dozierende nicht nur in der Totalen aufgenommen, sondern werden den Studierenden als Nahaufnahme während der gesamten Lehrveranstaltung gezeigt. So wird es möglich, Körpersprache und Mimik und damit auch Emotionen wie Begeisterung oder Ernsthaftigkeit zu erkennen, die bekanntermaßen nonverbal zum Verständnis der Inhalte beitragen. Das gilt auch für die Nachbereitung einer Lehrveranstaltung per Videoaufnahme. Somit profitiert auch eine „Präsenzhochschule“ mit großen Hörsälen von einem professionellen hybriden Setup, das nicht nur verbale, sondern auch ergänzend nonverbale Inhalte vermittelt.
Last but not least sollte nicht vergessen werden, dass auch die Hochschulen immer im Wandel waren. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde Wissen noch per Studienbrief vermittelt, es folgten Radio- und TV-Formate und schließlich das Internet, das am Anfang mit statischen Bildern und Text nur einfache Formate ermöglichte. Das 21. Jahrhundert stellt nun neue technologische Möglichkeiten zur Verfügung, die es im Sinne einer zeitlichen und örtlichen Unabhängigkeit der Lehre auszuschöpfen gilt.
Mit all diesen Aspekten muss sich auch die Präsenzhochschule auseinandersetzen.
Jede Lösung sollte vom Kunden ausgedacht werden. Das sind zum einen die Dozierenden, die Content produzieren, und zum anderen Studierende, die diesen konsumieren.
Bei den Dozierenden ist die Sache recht einfach. Diese möchten mit ihrem eigenen Notebook im Hörsaal ohne Aufwand die Veranstaltung durchführen, egal ob in Präsenz, rein online oder hybrid. Vor Ort konnte die Medientechnik in den vergangenen 20 Jahren einen großen Beitrag zur einfachen Nutzbarkeit leisten – die gesamte Technik im Raum, zum Beispiel Projektoren, Licht und vieles mehr, ist über ein Touchpanel zentral steuerbar, oft mit nur einem Klick. Bei der hybriden Lehre muss die Vorlesung ebenso einfach gestartet werden können. Die Dozierenden möchten sich schließlich auf die Vorlesung konzentrieren und sich nicht in ihrem Verhalten oder der Bewegung einschränken müssen. Weiterhin muss das System ohne Vorbereitung nutzbar sein.
Studierende äußern sich dahingehend, dass sie an die Hochschulen zurückkehren möchten. Jedoch wünscht sich mehr als die Hälfte der Studierenden hybride Veranstaltungen beziehungsweise eine gute Mischung aus allen Varianten, wie die Studie AV Solution INSIGHT FINDER „Digitale Medientechnik“ vom Januar 2022 festgehalten hat. Die Studie wurde im Auftrag der AV-Solution-Partner mit 250 Studierenden durchgeführt.
Dabei sind die Ansprüche der Studierenden an die Technik durchaus hoch. Ausgewählte Aussagen der Studierenden machen deutlich, dass diese den Mehrwert durch eine moderne medientechnische Ausstattung schätzen und sich wünschen, dass Hochschulen einen höheren Fokus auf diesen Aspekt legen.
Da zukünftig ein großer Teil von Lehrveranstaltungen online oder hybrid zur Verfügung gestellt wird, bedarf es neben einem professionellen vor allem eines automatisierten Setups, das mit schwierigen Lichtverhältnissen und besonderen Raumanforderungen zurechtkommt. Studierende, die am Bildrand den Raum verlassen möchten, oder abgedunkeltes Raumlicht, um die Projektion besser darstellen zu können, sind keine Seltenheit. Darauf müssen automatische Systeme eine Antwort kennen.
Jeder Raum ist anders, sei es, dass die Mittelwand rausgenommen werden kann, die Bühne ein Dreieck ist oder die Kameras von unterschiedlichen Positionen aus den Dozierenden aufnehmen. Für solche Fälle muss auch ein Tracking-System entsprechende Lösungen bieten. Im Idealfall sollten sich die Lösungen einfach in die bestehende Medientechnik-Infrastruktur integrieren lassen und die dafür erforderlichen Schnittstellen zur Verfügung stellen.
Ein automatisiertes System hat nur dann einen Mehrwert, wenn die Medientechniker*innen die Lehrveranstaltung nicht dauerhaft überwachen müssen und die Dozierenden eigenständig die Aufnahmen erstellen können. Denn nichts ist schlimmer als eine Aufnahme, die in der Mitte abbricht, oder dass Dozierende nicht mehr dargestellt werden. Die Aufzeichnung einer halben Vorlesung ist wertlos und kann nicht genutzt werden. Die wichtigste Anforderung bleibt damit die Zuverlässigkeit.
Wie zuvor dargestellt, hat die Hochschule ein Interesse, für Studierende attraktiv zu sein und die Zahl der erfolgreichen Absolventen zu steigern, gleichzeitig aber unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit nicht immer weitere Bildungsräume zu bauen.
Deshalb muss die Sichtweise auf das zu vermittelnde Wissen und die Kompetenzen zukünftig differenzierter erfolgen. Ist es sinnvoll, dass Dozierende jedes Jahr wieder die gleichen Grundlagenkurse mit viel Zeitaufwand in Massenveranstaltungen live „vorlesen“? Wäre es nicht besser, die wertvolle Kontaktzeit in Präsenz für individuelle, auf den einzelnen Studierenden ausgerichtete Kompetenzentwicklung zu verwenden? Warum ein „Schuh“ für alle, wenn in der digitalen Lehre eine individuelle Differenzierung möglich ist?
Bildungstechnologien zur Gestaltung der Hochschule der Zukunft
Unter Einsatz von Bildungstechnologien versteht man die Optimierung von Prozessen unter Verwendung von Hardware- und Softwarelösungen. Um den gesamten Workflow konsequent abbilden zu können, bedarf es einer umfangreichen Infrastruktur. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Aufnahmequalität zu, die zum einen durch den Ton und die Kameras und zum anderen durch das Auto-Tracking-System bestimmt wird.
Neben einer schnellen Mechanik in der Kamera und einem großen Chip, mit denen sich auch bei schlechten Lichtverhältnissen gute Aufnahmen erzeugen lassen, ist das Tracking-System von großer Bedeutung. Denn die beste Kameratechnik, Lern- oder Streaming-Plattform führt nicht zum Lernerfolg, wenn Dozierende nicht ausreichend groß dargestellt werden und Emotionen nicht erkennbar sind.
Es gibt grundsätzlich verschiedene Arten von Tracking am Markt. Marker haben sich nicht durchgesetzt, da diese von den Dozierenden vergessen werden können und damit kein Tracking erfolgt. Daher gibt es aktuell drei wesentliche Varianten am Markt: Zum einen die audiobasierten Systeme, die optischen und die Laser- beziehungsweise Lidar-basierten Systeme. In Tabelle „Vergleich unterschiedlicher Tracking-Technologien“ werden die Unterschiede der Systeme verglichen.
Bei Seminarräumen bieten sich audiobasierte Systeme an, die zwischen vordefinierten Zonen hin und her schalten können. In einfachen Hörsälen können optische Systeme eingesetzt werden. Diese sind jedoch deutlich limitiert, wenn es um die Zuverlässigkeit geht. Die zuverlässigsten Systeme am Markt basieren auf Lidar-Sensoren. Einziger Wehrmutstropfen ist, dass die Lidar-Sensoren im Raum baulich montiert werden müssen.
Die Hybride-Lehre und die digitale Hochschule der Zukunft stehen erst am Anfang. Jetzt ist die Zeit, sie zu gestalten.
(4) Vgl. Daniel, J. S. (1999). Mega-universities and knowledge media. Technology strategies for higher education (Reprinted with rev.). London: Kogan Page.
(5) Zum Begriff Medien(produktionskompetenz): vgl. Vogt, S., Maschwitz, A., & Zawacki-Richter, O. (2010). From Knowledge Transfer to Competence Development – a Case of Learning by Designing. In: J. Herrington & B. Hunter (Hrsg.). Proceedings of World Conference on Educational Multimedia, Hypermedia and Telecommunications, 1416-1424. Toronto: Association for the Advancement of Computing in Education (AACE). http://www.editlib.org/p/34822.
(7) Vgl. Koumi, J. (2009). Designing video and multimedia for open and flexible learning (Reprinted). London: Routledge.
(8) Vgl. Schomburg, J., Muth, P., Racky, R., Vogt, S., & Rohn, H. (2021). CO2-Fußabdruck einer Live-Produktion: Fallbeispiel eines audiovisuellen akademischen Online-Formates anhand der Ringvorlesung „Verantwortung Zukunft“. FKT-Fachzeitschrift für Fernsehen, Film und Elektronische Medien, 75(12), 29-34.
(9) Kelly, Barr, Breckinridge Church & Lynch (1999); Straube, Green Weiss, Chatterjee & Kircher (2008) & Rupp, L., Wulff, B. & Hamborg, K. Veranstaltungsaufzeichnungen mit LectureSight: Effekte auf Lernen und Akzeptanz.
Thorsten Weiss ist als Geschäftsführer der VST GmbH aus Saalfeld tätig, einem renommierten AV-/IT-Systemhaus und innovativer Hersteller von audiovisuellen Produkten. Auch Tim Kutter gehört zum VST-Team und wirkt dort als Head of Sales für die Eigenmarke TrackingMaster. Die Expertise in Sachen Medientechnik in Hochschulen kommt nicht von ungefähr: Das Team von VST hat neben zahlreichen medientechnischen Installationen in unterschiedlichen Märkten auch etliche Hochschul-Projekte realisiert, darunter das Audimax der Bauhaus-Universität Weimar, das One-Button-Studio zur digitalen Lehre in der Hochschule Hof oder den Chemiehörsaal (IAAC) der Friedrich-Schiller-Universität Jena.