Audiomatrix Harvey in der Oper Bonn

Seit vier Jahren verrichtet eine Audio- und Mediensteuerungsmatrix des Berliner Unternehmens Dspecialists im Bonner Opernhaus ihren Dienst – vollkommen unauffällig im 19″-Schrank eines Technikraums. „Und das ist auch gut so“, wie Klaus Wowereit wohl sagen würde …Audiovernetzung in der Oper Bonn(Bild: Jörg Küster)

Wer beim Blick auf die Überschrift ins Grübeln gerät und kurzzeitig Zweifel an der eigenen Kulturkompetenz hegt, darf sich entspannt zurücklehnen: Bei Harvey handelt es sich nicht um das in Vergessenheit geratene musikalische Frühwerk eines bekannten Komponisten – vielmehr ist Harvey mx.16 eine Audio- und Mediensteuerungsmatrix der Berliner Dspecialists, die im Bonner Opernhaus seit rund vier Jahren zuverlässig ihren Dienst verrichtet. Installiert wurde das visuell eher unscheinbare 19″-Gerät im Rahmen einer umfassenden Überarbeitung der hauseigenen Inspizientenanlage, für die Spezialisten von Salzbrenner media, Systemhaus für Audio-, Video- und Medientechnik, im Jahr 2014 während der sommerlichen Spielpause in einem knapp bemessenen Zeitfenster die Verantwortung trugen.

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Was hat Harvey mit Hollywood zu tun?

„Der Name Harvey geht auf den Spielfilm ‚Mein Freund Harvey‘ mit James Stewart zurück“, verrät Jochen Cronemeyer und blickt in einigermaßen verblüffte Gesichter. Der Hauptgesellschafter und Geschäftsführer der Dspecialists Digitale Audio- und Messsysteme GmbH, die 2018 ihr 15-jähriges Bestehen feiert, erläutert: „Als wir einen passenden Namen für unsere Entwicklung suchten, war von Beginn an klar, dass das Gerät irgendwann in einen 19″-Schrank eingebaut und dort über viele Jahre oder Jahrzehnte hinweg seinen Dienst tun wird. Wie nennt man ein Gerät, das sozusagen ‚nicht mehr da‘ ist?“

Zur Erläuterung: Der Protagonist des auf einem Theaterstück basierenden US-Films „Mein Freund Harvey“ wird von einem mehr als zwei Meter großen Hasen namens Harvey begleitet, mit dem er Zwiesprache hält, und der für andere Anwesende unsichtbar ist. „Harvey ist somit doch genau der richtige Name für einen unsichtbaren Freund: Man sieht ihn nicht, aber er ist immer da und tut seinen Dienst“, merkt Jochen Cronemeyer schmunzelnd an.

Symbiose aus Audiomatrix und Mediensteuerung

Harvey mx.16 kombiniert eine komplexe Audiosignalverarbeitung mit den Möglichkeiten einer Mediensteuerung – „das Beste beider Welten“ würden Marketingspezialisten vermutlich formulieren. Die Audiomatrix samt DSP-Funktionalitäten ist bei Harvey frei über die Software Harvey Composer konfigurierbar. Die Bedienung erfolgt mittels Drag&Drop- Technik, wobei sich einzelne Bearbeitungsmodule im Rahmen der vorhandenen DSP-Kapazitäten beliebig platzieren und verbinden lassen. Gelungene Konfigurationen können als Presets im System hinterlegt werden.

Der Mediensteuerungsteil bietet diverse Möglichkeiten, die sich beispielsweise in kleineren Konferenzräumen sinnvoll einsetzen lassen: „Der Kunde benötigt in diesen Zusammenhängen ausschließlich Harvey und muss nicht noch separate Controller für das Licht oder Mediengeräte anschaffen“, sagt Jochen Cronemeyer über das zugrundeliegende Konzept. „Bei der Konfiguration wird mit zwei Layern gearbeitet: Eine Ebene ist für den Audiopart zuständig, während die andere den Mediensteuerungsfunktionen zugewiesen ist.“

Harvey mx.16 wird von Dspecialists seit 2013 in eigener Regie vertrieben, wobei inzwischen weltweit mehr als ein Dutzend Distributoren hinzugekommen sind. Jochen Cronemeyer freut sich über eine sehr gute Resonanz und weist in einem Nebensatz darauf hin, dass insbesondere in Asien der Zusatz „Made in Germany“ für hohes Ansehen sorgt und als Qualitätsmerkmal verstanden wird. Alle Geräte werden von Dspecialists in Deutschland entwickelt und gefertigt.

Das Preis-Leistungs-Verhältnis erscheint attraktiv, zumal Harvey durch seine Funktionsfülle je nach Szenario ohne Unterstützung durch externe Prozessoren alle anfallenden Aufgaben erledigen kann. Auf spezielle Kundenwünsche kann eingegangen werden, sofern den Software-Entwicklern ausreichend Zeit eingeräumt wird. Wenn neue Algorithmen für die Bearbeitung von Audiosignalen entwickelt werden, besteht für Kunden die Möglichkeit, Updates in ihre vorhandenen Geräte einzuspielen.

Wie ist die Hardware bestückt?

Harvey mx.16 ist ein 7 kg schweres 19″-Gerät, das bei einem Rack-Einbau 2 HE beansprucht. Die aufgeräumte graue Frontplatte beinhaltet ein zweizeiliges LC-Display, das von vier Multifunktionstastern flankiert wird, deren jeweilige Funktionen an der Bildschirmdarstellung abzulesen sind. Rechts neben dem Display befinden sich ein Endlosdrehgeber sowie eine rote „Alarm“-LED. Ein frontseitiger Kopfhörerausgang ist ebenfalls vorhanden. Auf der Rückseite ist der Kaltgerätenetzanschluss samt An-/Aus-Schalter platziert. Jenseits eines Ethernet- Ports (RJ45) sind RS232 und RS485/DMX als Schnittstellen zur Fernbedienung sowie zum Austausch von Steuerbefehlen zwischen Harvey und externen Komponenten wie Licht- und Beschallungsanlagen, Medientechnik oder Bedienpanels verfügbar. Acht Spannungseingänge sind ebenso mit an Bord wie acht Optokopplereingänge. Vier Relaisausgänge zum Schalten externer Komponenten erweitern das Angebot, wobei Kontakt 1 der Störmeldekontakt ist.

Audioseitig sind 16 Line-Eingänge implementiert, von denen die ersten acht als Mikrofoneingänge mit +48V-Phantomspeisung konfiguriert werden können. Als Audioausgänge sind 16 analoge Anschlüsse mit Line-Pegel vorgesehen. Optional können Karten mit Cobra- Net- oder Dante-Schnittstellen geordert werden. Die Algorithmen sind für eine Signalbearbeitung mit einer Abtastrate von 48 kHz ausgelegt, die A/D- und D/A-Wandlungen erfolgen mit einer Wortbreite von 24 Bit.

Harvey führt Mithörmikrofone zusammen

Alexander Kissler, Product Manager / Sales Support bei Salzbrenner media mit Hauptsitz in Buttenheim, erinnert sich an den Umbau der Inspizientenanlage im Jahr 2014 und die damit verbundenen Herausforderungen: „Große Parts der in die Jahre gekommenen Technik mussten ersetzt werden, wobei Teile des Bestands zu erhalten waren, was innerhalb des knappen Zeitrahmens keine ganz einfache Aufgabe darstellte. Für die Demontage des bestehenden Inspizientenpults, die Installation von Lichtzeichen beziehungsweise Hinweisleuchten sowie von Ruf- und Mithörlautsprechern und die Inbetriebnahme der Intercom- und Videoanlage blieben insgesamt nur sechs Wochen Zeit. Es gab kein Zurück!“

Harvey mx.16 ist ein 7 kg schweres 19"- Gerät, das bei einem Rack-Einbau 2 HE beansprucht.
Harvey mx.16 ist ein 7 kg schweres 19″- Gerät, das bei einem Rack-Einbau 2 HE beansprucht. (Bild: Jörg Küster)

Im Zusammenhang mit den Arbeiten wurden zahlreiche 19″-Komponenten in einem zentralen Technikraum der Oper Bonn untergebracht. Dort sind mehrere mannshohe Gestellschränke zu entdecken, in denen auch Harvey mx.16 seinen Platz gefunden hat. „Bei Harvey laufen die Ausgangssignale der im Großen Saal sowie in der Werkstattbühne installierten Mithörmikrofone zusammen. Sie werden im Prozessor bearbeitet und anschließend den gewünschten Ausgabepositionen innerhalb des Hauses zugeführt“, erläutert Alexander Kissler. „Hilfreich sind in diesem Zusammenhang die Bearbeitungsmöglichkeiten, welche Harvey bereitstellt: In der Kantine beispielsweise variiert der Geräuschpegel sehr stark, je nachdem, wie viele Personen dort anwesend sind und ob gerade gegessen wird oder nicht. Früher war der Mithörpegel in der Kantine je nach Einstellung entweder grundsätzlich zu laut oder zu leise. Wir haben das Problem derart gelöst, dass zwei Mikrofone auf den beiden Ebenen der Kantine den Geräuschpegel einfangen und von Harvey als Steuersignale herangezogen werden – im Hintergrund arbeitet der sogenannte Ambient-Noisecontrol-Algorithmus. Die Ausgabe erfolgt an den gewünschten Stellen im Haus über Lautsprecher, die in ein 100V-System eingebunden sind.“

Die Software Harvey Composer ist auf einem Rechner im Technikraum installiert.
Die Software Harvey Composer ist auf einem Rechner im Technikraum installiert. (Bild: Jörg Küster)

Ambient-Noisecontrol arbeitet unsichtbar im Hintergrund

Bei Ambient-Noisecontrol handelt es sich im Prinzip um einen elaborierten Ducking-Algorithmus, der dank einer geschickten Parametrisierung feinfühlig an die konkrete Aufgabe angepasst werden kann. Wenn in der Kantine kurzzeitig das Geschirr scheppert, soll der Pegel der Lautsprecher schließlich nicht gleich ins Unermessliche steigen. Im Idealfall gestalten sich die Regelvorgänge so, dass sie von Anwesenden nicht bewusst wahrgenommen werden.

Die spezielle Aufgabe in der Oper Bonn lastet die umfangreichen Möglichkeiten von Harvey bei Weitem nicht aus – die Steuerungsmöglichkeiten des Gerätes werden in der rheinischen Bundesstadt beispielsweise überhaupt nicht bemüht. Harvey mx.16 wird vielmehr extern über die von Salzbrenner media entwickelte Steuerung PerformanCeTRL adressiert. Für Salzbrenner media war die Installation in der Oper Bonn nicht die erste Kooperation mit Dspecialists. Alexander Kissler spricht von „interessanten Produkten“ und ist sicher, dass man auch künftig erfolgreich mit der Berliner Firma zusammenarbeiten wird, zumal diverse neue Entwicklungen (siehe unten) ihre Schatten vorauswerfen.

Set & Forget

Opernaufführungen kommen jenseits spezieller Effekte in der Regel ohne elektroakustische Verstärkung aus. Bei den in Bonn regelmäßig auf dem Programm stehenden Musical-Eigenproduktionen findet jedoch ein gerütteltes Maß an Tontechnik Verwendung. Tanz-Performances müssen zudem mit einer passenden Untermalung „aus der Konserve“ oder durch Live-Musik ergänzt werden. Im Großen Saal der Bonner Oper, der bis heute den besonderen Charme der 1960er-Jahre versprüht, finden mehr als 1.000 Personen Platz.

„Harvey mx.16 befindet sich im Keller in einem 19″-Rack und erfährt im laufenden Betrieb keine weitere Beachtung“, berichtet Elisabeth Thomann, die seit 15 Jahren im Haus tätig ist und die Funktion der Leiterin Tontechnik bekleidet – ihre Aussage unterstützt Jochen Cronemeyers Analogie des „unsichtbaren Freundes“. Thomann weiter: „Ich habe bereits mit der zu Harvey gehörenden Software gearbeitet, um beispielsweise bei einer Fehlersuche innerhalb unseres betagten Leitungsnetzes einen Tongenerator und eine Pegelanzeige zu erzeugen – die Umgebung, die ich mir dabei im Harvey Composer zusammengestellt habe, hat die Fehlersuche vereinfacht. Die Software ist auf einem Rechner im Technikraum installiert.

Technikraum der Oper Bonn mit mehreren mannshohen Gestellschränken
Technikraum der Oper Bonn mit mehreren mannshohen Gestellschränken (Bild: Jörg Küster)

Das User-Interface ist übersichtlich gestaltet, was von Vorteil ist, wenn man lediglich einmal pro Jahr darauf zugreift und dann natürlich nicht unbedingt sämtliche Funktionen vollständig im Gedächtnis hat. Bislang bin ich immer gut zurechtgekommen, und es bestand keine Notwendigkeit, sich intensiv mit der Bedienungsanleitung zu befassen.“

Erweitertes Produktportfolio seit 2018

Pünktlich zum 15-jährigen Firmenjubiläum hat die Dspecialists Digitale Audio- und Messsysteme GmbH ihrer Audio- und Mediensteuerungsmatrix Harvey mx.16 eine modulare neue Gerätegeneration zur Seite gestellt. Die Produktfamilie wird zunächst durch den „kleinen Bruder“ Harvey 8×8 (1 HE) erweitert. Die vielfältigen Steuermöglichkeiten über serielle Ports, Ethernet und DMX sind auch hier vorhanden.

V.l.n.r.: Alexander Kissler, Elisabeth Thomann und Jochen Cronemeyer
V.l.n.r.: Alexander Kissler, Elisabeth Thomann und Jochen Cronemeyer (Bild: Jörg Küster)

Außerdem wird Audinates Dante-Protokoll unterstützt. Das neue Konzept erlaubt auch weitere Konfigurationen wie 4 x 8, 24 x 4 oder 16 x 16. Eine digitale I/O-Karte (AES/ EBU) steht ebenfalls vor der Markteinführung. Die internen Signalverarbeitungsmöglichkeiten werden durch die neueste DSP-Generation SHARC ADSP-21469 erweitert, und in Berlin denkt man u. a. über komplexe Algorithmen nach, die beispielsweise ein besonders ausgeklügeltes Echo-Cancelling und Verfahren für 3D-Audio zur Verfügung stellen sollen. Die aktuellen Wandler unterstützen prinzipiell Abtastraten bis 192 kHz, wobei die Software- Algorithmen zunächst für 48 kHz ausgelegt sind. Jochen Cronemeyer weist explizit auf den sehr guten Signal-Rauschabstand sowie die geringe, konstante Latenz hin und kann sich Einsätze von Harvey auch in anspruchsvollen Tonstudioumgebungen vorstellen. Zu den besonderen Eigenschaften der neuen Harvey- Familienmitglieder gehört, dass sich die Ein- und Ausgänge in Vierergruppen frei konfigurieren lassen, wobei die gewünschte Bestückung ab Werk vorgenommen wird.

Das erweiterte Portfolio wird durch die Hardware-Remote RC4 abgerundet, die über vier hinterleuchtete Taster sowie einen großen Endlosdrehgeber mit Push-Funktion samt zugeordnetem LED-Kranz verfügt und per Netzwerkkabel anzuschließen ist. Die Stromversorgung erfolgt über PoE. Das Design hat derzeit seine finale Form noch nicht erreicht und möglicherweise wird neben einer zweckmäßigen Kunststoffausführung auch eine Luxusvariante mit besonders wertiger Anmutung für den Einsatz in entsprechenden Umgebungen angeboten werden. Jochen Cronemeyer und seinem engagierten Team werden die Ideen für ihren „unsichtbaren Freund“ ganz sicher nicht ausgehen, zumal man in Berlin stets ein offenes Ohr für die Bedürfnisse und Wünsche bestehender wie potenzieller Kunden hat. (6266)

 


(Aus Professional System 06/2018)

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