Audio over IP, proprietäre vs. offene Netzwerke, Vielfalt oder Quasi-Monopol: Wenn es um AV-Netzwerke in Festinstallationen geht, gibt es viele Meinungen, häufig leider angefeuert von Partikularinteressen und Halbwissen. Gibt es das eine Netzwerkprotokoll, das alle glücklich macht? Wollen wir einen einzigen Standard? Oder doch eher Vielfalt (mit allem, was dazu gehört)? In diesem Artikel wollen wir das Thema AVB und Milan etwas näher betrachten.
Standards kommen und gehen – auch (und vielleicht gerade) im Bereich AV-Netzwerke; und manchmal leben vermeintlich Totgesagte dann doch länger und besser, als es manche Expert:innen vorausgesagt haben. Als etwa Avid 2015 das Mischsystem S6L, dessen einzelne Komponenten über AVB miteinander verbunden sind, vorstellte, hatten viele AVB bereits abgeschrieben und zeigten sich ziemlich überrascht, dass sich ein namhafter Hersteller für diesen Weg entschieden hatte. Nicht zuletzt, weil AVB kein proprietäres, sondern ein offenes System ist, war und ist man jedoch bei mittlerweile zahlreichen Herstellern der Meinung, dies sei zumindest ein richtiger Weg. Den richtigen Weg, das eine Netzwerkprotokoll, dass alle Hersteller und Anwender glücklich machen, gibt es nicht – und wird es wohl auch nie geben.
Bei AVB (Audio Video Bridging) handelt es sich um eine Reihe von offenen Standards der Audio Video Bridging Task Group (seit 2012 umbenannt in Time-Sensitive Networking Task Group) für die unterschiedlichsten anwendungsoffenen Datenübertragungen (z.B. Home-Entertainment oder Automotive – aber eben auch im professionellen Audio- und Videobereich) in Form von synchronisiertem, priorisierten Streaming über (und dies ist gerade im Bereich Festinstallation wichtig: auch bereits vorhandene) Ethernet-Netzwerke über eine einzelne und vor allem herstellerneutrale (also nicht-proprietäre) Infrastruktur. Durch Bandwidth Reservation innerhalb von AVB-Netzwerken ist es möglich, Daten zuverlässig zu priorisieren, also gewisse Mindestbandbreiten zur Verfügung zu stellen, und somit die Übertragungsstabilität zu gewährleisten, wobei alle relevanten Zeitinformationen mitübertragen werden. Gerade im Hinblick auf Audio- und Videodaten ein wesentlicher Aspekt, spielen doch gerade hier Faktoren wie Phase oder auch Timing eine entscheidende Rolle.
AVB ist dabei ein einheitlicher und nicht zuletzt auch lizenzfreier offener Standard, bestehend aus folgenden Richtlinien:
IEEE 802.1AS: Timing and Synchronization for Time-Sensitive Applications (gPTP),
IEEE 802.1Qat: Stream Reservation Protocol (SRP),
IEEE 802.1Qav: Forwarding and Queuing for Time-Sensitive Streams, und
IEEE 802.1BA: Audio Video Bridging Systems
Ein weiterer – ganz handfester – Vorteil von AVB ist z.B., dass im Festinstallationsbereich zukünftig alle möglichen unterschiedlichen Signaltypen über ein einziges Ethernet-Netzwerk transportiert werden können! Im Idealfall werden somit parallele Infrastrukturen für unterschiedliche Gewerke (IT, Audio, Video etc.) obsolet, was die Installationskosten für die Kabelinfrastruktur, die normalerweise einen recht signifikanten Anteil eines Projektbudgets ausmachen, nicht unerheblich senken könnte. Da es sich bei AVB um ein deterministisches Netzwerk handelt, sollte es (zumindest theoretisch) möglich sein, ein solches Netzwerk ohne allzu ausgeprägte IT-Kenntnisse aufzubauen und zu betreiben. Im Grunde wird ein „Plug & Play”-Betrieb angestrebt, der nicht viel komplexer ist, als es zumindest die Älteren unter uns noch aus Zeiten der analogen Audiotechnik kennen. Nicht jedes Theater oder jede Stadthalle können es sich leisten, IT-Expert:innen auch für diesen Bereich anzustellen und für jede Probe und Vorstellung auch noch im Stand-By-Modus bereitzuhalten.
Strukturell wird ein AVB-Netzwerk nicht anders aufgebaut wie ein konventionelles Ethernet-Netzwerk auch, mit Switchen (im AVB-Kontext wird hier von Brücken oder Bridges gesprochen) zur Verteilung der Daten, je nach Ausführung der Schnittstellen mit CAT- und/ oder Glasfaserkabeln. Die jeweiligen Endgeräte und AVB-Brücken formen die sogenannte AVB-Wolke. Diese kann im Grunde auch ein Teil eines anderen Ethernet-Netzwerkes sein, in dem nicht alle Geräte die AVB-Eigenschaften haben.
Dass im eben genannten Kontext die unterschiedlichen Geräte eines individuellen Herstellers gut miteinander klarkommen, versteht sich von selbst. Das angestrebte Ziel heißt jedoch Interoperabilität – ein Buzzword, das allgegenwärtig ist, wenn über AVB-Netzwerke gesprochen wird. Letztlich bedeutet Interoperabilität nichts anderes als das reibungslose Zusammenspiel von Geräten unterschiedlicher Hersteller, also das problemlose Übertragen von Audio- und/ oder Videodaten innerhalb eines Netzwerkes zwischen den Produkten der Hersteller A, B und C (und D und E und F …). Das klingt jetzt trivialer und selbstverständlicher, als es tatsächlich ist, schließt doch Interoperabilität nicht nur die Übertragung von Audiodaten, sondern bestenfalls auch das Routing sowie die Gerätekonfiguration und Gerätesteuerung mit ein!
Leider ist dieses Ziel bei technischen Standards nicht immer so einfach zu erreichen, wie man sich dies wünschen würde, da diese Standards häufig sehr weit gefasst sein müssen, um eine Vielzahl von möglichen Anwendungen abzudecken. Was wiederum zur Folge hat, dass Geräte zweier verschiedener Hersteller nicht notwendigerweise interoperabel sind, obgleich sie ein und denselben technischen Standard unterstützen – für die Nutzer:innen natürlich ein Ärgernis und weit entfernt vom wünschenswerten Zustand.
Viele von uns werden sich bestimmt noch erinnern, dass in der Frühzeit von Wireless-Netzwerken (also etwa zwischen den Jahren 2000 und 2010) das Einloggen in ein Netzwerk von Hersteller A mit einem Gerät von Hersteller B praktisch ein Ding der Unmöglichkeit war. Erst die Einführung des WiFi-Protokolls – also eines übergeordneten Protokolls – konnte hier langsam Abhilfe schaffen und die Dinge für Nutzer und Nutzerinnen so vereinfachen, dass sich eine gewisse Alltagstauglichkeit einstellte.
Ähnliches gilt für AVB: Um die Geräte der unterschiedlichsten Hersteller sinnvoll und praxisgerecht miteinander vernetzen zu können, bedarf es eines übergeordneten Protokolls, das den zugrundeliegenden Standard für den speziellen Anwendungsfall definiert.
Hier sei noch kurz angemerkt, dass es das eben geschilderte Problem bei proprietären Lösungen natürlich nicht gibt, da hier weltweit ein einziger Hersteller A (im Falle von Dante etwa Audinate) das Protokoll definiert – alle Endgerätehersteller, die die jeweilige proprietäre Lösung implementieren wollen, sind auf diesen Hersteller A angewiesen. Dies kann Vor-, aber auch Nachteile für alle anderen Hersteller und Anwender:innen haben; was geschieht etwa, wenn Hersteller A Lieferschwierigkeiten hat (was ja gerade zurzeit in vielen Bereichen, auch in der Audiowelt, durchaus vorkommt), was wenn Hersteller A vom Markt geht?
Auf der Grundlage solcher und ähnlicher Überlegungen schlossen sich die Firmen d&b Audiotechnik, Meyer Sound und L-Acoustics zur Milan-Initiative zusammen, deren Ziel die Entwicklung eines übergeordneten Protokolls für AVB Anwendungen ist. Im Laufe der letzten Jahre schlossen sich noch weitere Hersteller wie z.B. Avid, Biamp, Luminex oder Presonus Milan an (eine vollständige Liste finden Sie hier), so dass die Initiative mittlerweile ein beachtliches Standing und Gewicht hat. Die Milan-Initiative hat die Philosophie „Das Milan-Netzwerk sollte so einfach wie analog sein“ und beruht auf drei Prinzipien:
Konvergenz ist eine Realität. Audio, Video, Licht, Kinetik und IT müssen in einem Netzwerk und auf demselben Kabel koexistieren.
Das Netzwerk muss zukunftssicher sein, um die wachsenden Anforderungen und Veränderungen für den sich entwickelnden Pro-AV-Markt zu unterstützen (gerade bei Festinstallationen kann nicht ständig die Kabelinfrastruktur erneuert werden!).
Der AV-Markt muss mit anderen Industrien kooperieren, um diese Konvergenz zu managen und davon zu profitieren.
So soll schließlich und endlich das „alte“ Versprechen von AVB eingelöst werden, nämlich ein möglichst einfacher, nachhaltiger und ebenso sicherer wie stabiler Netzwerkbetrieb mit garantierter Leistung, wobei Milan die Interoperabilität zwischen professionellen AV-Geräten der unterschiedlichen Hersteller sicherstellt. Gleichzeitig nutzt Milan hierbei die Möglichkeit von AVB, redundante Übertragungspfade zu erstellen, was AVB-Geräten wiederum die Möglichkeit gibt, eine ganze Reihe von möglicherweise auftretenden Netzwerkfehlern zu kompensieren.
Seit der InfoComm 2018 werden unter dem Milan-Banner AVB-Geräte und Anwendungen für die AV-Branche zertifiziert. Die unterschiedlichen Netzwerk-Komponenten können praktisch Plug & Play durch Nutzer:innen und Systemintegratoren in das Netzwerk integriert werden – alle zertifizierten Geräte können sich miteinander verbinden und kommunizieren.
Längerfristig betrachtet, wird im AV Bereich ein stabiles Netzwerk benötigt, das gleichzeitig dynamisch genug ist, sich den sich ändernden Anforderungen der Branche flexibel anzupassen und zu wachsen. Hersteller und Nutzer:innen wollen sich darauf verlassen können, dass ihnen ein dauerhafter und verlässlicher Standard geboten wird: Milan will genau diese Bedürfnisse befriedigen und gleichzeitig den Herstellern mit seiner offenen Struktur die Möglichkeit geben, ihre Systeme einerseits weiter unabhängig zu entwickeln, bei gleichzeitiger Kontrolle über das Netzwerk. Für die Anwender:innen soll die Vernetzung dabei so einfach wie nur irgend denkbar sein, idealerweise eben Plug & Play.
Das häufig zeitaufwendige und komplexe Konfigurieren von Netzwerken und ihren einzelnen Komponenten soll mithin weitestgehend entfallen, die so aufgebauten Netzwerke sollen praktisch beliebig skalierbar sein, spezielle IT-Kenntnisse sind dabei nicht erforderlich. Auch hier kann im Hinblick auf Planung, Installation, Inbetriebnahme und Wartung wieder von einer kosten- und zeitsparenden Maßnahme ausgegangen werden.
Außerdem ist Milan zeitsensitiv und nutzt spezielle Mechanismen zur zuverlässigen Synchronisation; reservierte Bandbreiten erlauben auch andere Anwendungen im selben Netzwerk, ohne dass die eigentliche AV-Übertragung durch diese beeinträchtigt würde. Die IEEE1588-Arbeitsgruppe entwickelte einen Standard zum Erreichen einer einheitlichen Netzwerkzeit, bekannt unter dem Namen PTP (Precision Time Protocol), der schließlich eine zeitliche Synchronisierung ermöglicht.
Bei der Datenübertragung kann im Ethernet leider eine ganze Menge schiefgehen und nicht funktionieren – ein Szenario, das es in Festinstallationen bzw. der Live-Branche natürlich tunlichst zu vermeiden gilt! Um z.B. einen Verlust von Datenpaketen mit Audiodaten möglichst auszuschließen, erhält unter Milan dank seiner speziellen Architektur jedes Paket einen gewissen Prioritätswert, wobei Audiodaten immer eine hohe Priorität besitzen und so gewissermaßen „bevorzugt behandelt“ werden. Bei hohem Datenaufkommen werden im Netzwerk z.B. Pakete mit niedriger Priorität verworfen, um Platz zu machen für Pakete mit hoher Priorität (also Audio). Verbindet sich nun ein Milan-Gerät mit dem Netzwerk, wird diesem automatisch und zuverlässig ausreichend Bandbreite zur Verfügung gestellt, so dass garantiert keine Daten ausgesiebt werden und verloren gehen.
Das Milan-Protokoll garantiert somit das Zusammenspiel unterschiedlichster Geräte unterschiedlicher Hersteller, ohne dass die Nutzer:innen erst spezifische Netzwerkkonfigurationen vornehmen müssten – zertifizierte Milan-Geräte können sich jederzeit mit anderen zertifizierten Milan-Geräten verbinden, das gewünschte „Plug & Play“-Szenario ist somit ein gutes Stück näher gerückt.
Ist nun AVB/Milan das einzig selig machende Netzwerk Protokoll? Wahrscheinlich nicht – aber das kann auch kein anderes Protokoll, egal ob offen oder proprietär, von sich behaupten! Was AVB unter dem Milan-Mantel aber durchaus bietet, ist eine ernstzunehmende, häufig kostengünstige und vergleichsweise einfach zu bedienende Alternative zu anderen Systemen, die nicht leichtfertig abgetan werden sollte. Und sieht man sich an, welche Hersteller – und damit Marktmacht – hinter Milan stehen, darf man in den kommenden Jahren wohl noch einiges erwarten!
Zur aktuellen Lage in Sachen AVB und vor allem Milan befragten wir mehrere Hersteller, die sich im Rahmen von Milan engagieren und mit den aktuellen Trends und Entwicklungen zu diesem vielschichtigen Thema bestens vertraut sind. Da ergeben sich interessante Einblicke!
Live-Sound-Audiotechnik ist ein anspruchsvolles Geschäft; dieser Markt setzt die höchsten Anforderungen an die Audiostabilität, kombiniert mit einem hohen Maß an Schnelligkeit. Wenn so viel auf dem Spiel steht, kann es kein Rätselraten geben. Da müssen die Systeme robust sein, damit es keine Störungen im Audiosignal gibt. Aber sie müssen auch so einfach sein, dass sie in kürzester Zeit aufgebaut und ohne IT-Spezialisten konfiguriert werden können.
Broadcast als ein Beispiel hat sicherlich nicht weniger anspruchsvolle Anforderungen als die Live-Sound-Audiotechnik, aber es sind andere. Es gibt deshalb nicht das eine Netzwerkprotokoll, das die Anforderungen aller Anwender erfüllt. Verschiedene Netzwerkprotokolle erfüllen unterschiedliche Aufgaben.
Als Hersteller professioneller Beschallungssystemtechnik benötigt L-Acoustics mehr als nur eine Audio-Transportlösung. In einem modernen Beschallungssystem werden neben den Audiodaten auch noch etliche weitere zeitkritische Informationen übertragen. Das Netzwerk wird somit zur Grundlage für die eigne Value Proposition und ein zentrales Element des Systems. Deshalb verwendet L-Acoustics Milan als Netzwerkprotokoll, um notwendige umfangreiche Fernsteuerungsfunktionen, effiziente Audio-Netzwerklösungen und nahtlose Interaktion sowie Vernetzungen im System zu realisieren. Milan hat sich bei L-Acoustics bereits bei etlichen internationalen Tourneen und Festinstallationen bewährt.
Genio Kronauer, Executive Director of Electronics & Networks Technologies
Lautsprecherhersteller haben besondere Herausforderungen an ihre Systemarchitekturen. Zum einen benötigen wir eine sehr präzise und geringe Latenz und eine sehr hohe Übertragungssicherheit, zum anderen haben große Lautsprechersysteme sehr viele Netzwerk-Nodes und sind deshalb relativ komplexe Systeme. Solche großen Netzwerke müssen bei hundertprozentiger Betriebssicherheit sehr einfach zu planen, in Betrieb zu nehmen und zu bedienen sein. All dies sind Eigenschaften, für die AVB als Technologie prädestiniert ist. Mit Milan haben wir einen Interoperabilitätsstandard für AVB geschaffen, der AV-Netzwerke auf ein neues Level an Nutzfreundlichkeit hebt.
Ein entscheidender Vorteil ist dabei, dass Milan vollständig auf offenen Standards der IEEE beruht. Das bedeutet, dass wir nicht abhängig sind von den Strategien oder taktischen Positionierungen von Drittanbietern, sondern Netzwerke völlig selbstständig gemäß den Anforderungen unserer Kunden und Anwender immer weiter standardisieren und entwickeln können. Mit AVB/TSN verwenden wir dabei eine Technologie, die nicht nur zukunftssicher ist, sondern in absehbarer Perspektive auch vielfältige Integrationen mit industriellen Anwendungen, Komponenten und Halbleitern ermöglicht.
Milan ist in diesem Sinne auch eine einzigartige Kooperation von ProAudio-Herstellern, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Netzwerke einfach, nutzerfreundlich, ökonomisch und zukunftssicher zu machen. Es macht keinen Sinn, bei diesem Thema zu konkurrieren, sondern wir wollen Zusammenarbeit fördern, um einfache, sinnvolle und tragfähige Lösungen für unsere Industrie zu schaffen. Das ist kein kurzer Weg, aber im Zug einer sich rasch beschleunigenden Digitalisierung von mobilen und installierten Systemen ein äußerst sinnvoller. Höchstes Ziel ist die Vereinfachung von Komplexität, damit unsere Anwender sich auf das konzentrieren können, worum es geht: Erlebnisse schaffen. So gesehen schafft Milan auch eine Kultur unter Herstellern, sich beim Thema Netzwerk gemeinsam auf die Bedürfnisse der Anwender zu besinnen und sie vor einer absurd ausufernden Komplexität bei der Signalverteilung und Systemstruktur zu bewahren.
Henning Kaltheuner, Head of Strategic Business Development and Market Intelligence
Wir unterstützen seit Jahren neben dem digitalen Mehrkanalformat MADI auch immer mehr Audionetzwerkformate. Dazu zählen die beiden Audio-over-IP-Formate Ravenna und Dante und das Netzwerkformat SoundGrid. Daher und weil wir uns als formatunabhängigen Hersteller von Glueware verstehen, ist es naheliegend, dass wir uns bereits seit einigen Jahren auch für die Entwicklungen in Bezug auf AVB interessieren.
Wir haben prinzipiell immer sehr gute Erfahrungen mit offenen Formaten und standardkonformen Protokollen gesammelt, weil uns Flexibilität und Interoperabilität sehr wichtig sind, weil sie auch unseren Kunden große Vorteile bieten. Seit AVB 2018 durch das Milan Protokoll zertifiziert wurde, ist unser Interesse noch einmal deutlich gestiegen. Als relativ kleiner Hersteller und Bindeglied innerhalb vernetzter digitaler Audiosysteme war es uns natürlich wichtig, dass sich wesentliche Peripherie- Hersteller tatsächlich auch zu Milan bekennen und das Protokoll mit Leben füllen. Hersteller wie L-Acoustics, d&b, Meyer Sound, Adamson und Avid haben diese Rolle maßgeblich übernommen. 2020 ist für uns die Entscheidung gefallen, der AVnu Alliance als Associate Member beizutreten. Seitdem sind wir mehr und mehr davon überzeugt worden, dass sich Milan neben anderen Audionetzwerkformaten in einigen Anwendungsfeldern tatsächlich behaupten kann. Während sich Ravenna vor allem im Rundfunk und Immersive-Bereich neben LAN vorzugsweise auch für WAN-Strecken etabliert hat und Dante sehr stark in der Breite vertreten ist, wird AVB/Milan vor allem den vernetzen Live- und Installationsbereich mit seinen Möglichkeiten bereichern. Dabei geht es vor allem um lokale Netzwerkinfrastrukturen (LAN) mit geringen Systemlatenzen, hoher Systemstabilität und einfacher Konfiguration. Wir werden oft gefragt, ob sich Dante oder Milan, AES67 oder SoundGrid durchsetzen werden. Unsere Erfahrung und Überzeugung ist jedoch die, dass jedes dieser Formate und Protokolle seine Anwendung hat, für die es sich konkret prädestiniert.
Hauptaugenmerk bei RME war es von Anfang an, Anwendern mit unseren Produkten stets flexible Werkzeuge an die Hand zu geben, welche unterschiedliche Anwendungsprofile miteinander vereinen und in verschiedensten Szenarien einsetzbar sind. Auf Ethernet basierende Audionetzwerke unterstützen diese Entwicklung. Waren bei traditionellen digitalen Schnittstellen (u. a. AES/EBU, MADI) durch die Punkt-zu-Punkt-Charakteristik spezialisierte Geräte zur Signalverteilung notwendig, steht in Netzwerken jedes Signal eines Geräts automatisch allen anderen zur Verfügung. Twisted-Pair- und Glasfaserkabel aus der IT sind zudem kostengünstig, gut verfügbar und in den meisten Gebäuden bereits verlegt.
Allerdings wurde das in den 1980er Jahren standardisierte Ethernet nicht für die Echtzeitdatenübertragung entwickelt. Bei anderen, meist IP-basierten, Audionetzwerktechnologien wird versucht, über Priorisierung die Echtzeitfähigkeit nachzurüsten, was aber ein vollständig geplantes (provisioniertes) Netzwerk voraussetzt. Selbst für kleine Änderungen ist manuell die benötigte Bandbreite auf jedem Segment zu überprüfen. AVB/TSN hat diesen Nachteil nicht, vielmehr wurden die bestehenden IEEE-Standards für Ethernet-Netzwerke grundlegend um die deterministische Übertragung von zeitsensitiven Daten erweitert.
Der Schwerpunkt bei der Systemplanung im Studio und auf der Bühne liegt heute auf der reibungslosen Verzahnung verschiedener Arbeitsbereiche sowie der stetigen Verbesserung digitaler Workflows. Während im letzten Jahrzehnt netzwerkbasierte Audiosysteme mit dezentraler Architektur und hohen Kanalzahlen deutlich im Fokus standen, steigt inzwischen die Nachfrage nach kleineren, leichter einzurichtenden Produkten mit klarem Schwerpunkt auf Usability. Hier wird AVB, respektive Milan, in naher Zukunft seine Stärken ausspielen können.
Als RME 2014 die verschiedenen Audionetzwerktechnologien evaluiert hat, ist die Wahl auf AVB/TSN gefallen. Unsere Nutzer sollten sich nicht erst zu Netzwerkadministratoren fortbilden müssen, trotzdem muss eine äquivalent hohe Betriebssicherheit wie bei Punkt-zu-Punkt-Schnittstellen gewährleistet sein. Den häufig zitierten Nachteil, dass AVB/TSN nicht routbar ist, sehen wir nicht. Vielmehr ist die automatische Beschränkung auf ein lokales Netzwerk eher hilfreich, da für die Weitbereichsübertragung ohnehin andere Regeln gelten und dort spezialisierte Systeme zum Einsatz kommen sollten.
Bei der Implementierung von AVB haben wir festgestellt, dass die Standards einigen Interpretationsspielraum lassen, weswegen wir extrem froh über die Milan-Initiative waren und unmittelbar nach der Veröffentlichung der Spezifikationen mit deren Adaption begonnen haben. Milan verbessert nicht nur die Plug-and-Play-Fähigkeit von AVB/TSN-basierten Audionetzwerken, sondern garantiert auch herstellerübergreifende Interoperabilität. Wir sehen AVB/TSN für zeitsensitive Datenübertragung im Allgemeinen und Milan für Audionetzwerke im Speziellen als zukunftssichere Wahl. Gleichzeitig denken wir, dass sich Milan und bisherige Technologien wie MADI perfekt ergänzen können.
Adrian Lehmann, Pro Audio Product Specialist, Marc Schettke, Leiter Entwicklung AVB/Milan
Alles, was im Bereich der Konnektivität dauerhaft Bestand hat, basiert auf offenen Standards. Milan ist ein deterministisches Netzwerkprotokoll für Echtzeit-Medienanwendungen, das gemeinsam von führenden Herstellern der professionellen AV- und IT-Branchen als zukunftssichere Lösung auf Basis offener TSN-Standards der IEEE entwickelt wird. Es ermöglicht die Implementierung von AV-Lösungen ohne spezifische IT-Kenntnisse und ohne spezielle Konfiguration der Netzwerk-Infrastruktur.
Bisher wurden ausschließlich die Standards mit anderen, bereits existierenden Lösungen verglichen. Dieser Vergleich hinkt: eine Spezifikation auf einem Stück Papier gegen ein Produkt, das bereits erhältlich ist. Heute gibt es Milan-basierte Produkte und Lösungen, und die Frage ist nun, wie diese Lösungen implementiert werden und wie sie professionelle AV-Anwender in die Lage versetzen, die Herausforderungen einer ständig zunehmenden Vernetzung unterschiedlicher Systemkomponenten zu meistern. Für Adamson steht außer Frage, dass die Übertragung von Audiosignalen in Systemen mit vielen Lautsprechern und Verstärkern in Zukunft eine Aufgabe für Milan ist.