Kaum eine Branche ist nicht mit Problemen bei der Beschaffung von Rohstoffen und Vorprodukten oder Schwierigkeiten bei den Lieferketten konfrontiert. Auch die ProAV-Branche ist davon stark betroffen. Für Hersteller und Lieferanten sind die Auswirkungen sehr unterschiedlich, und sie reagieren mit individuellen Maßnahmen auf diese „Flaschenhals-Rezession“.
Eigentlich ist die Installation längst fertiggestellt, aber es fehlen noch kleine Details wie einfache Installationsrahmen oder auch einzelne Technikkomponenten. Der ausführende Integrator hat rund 75 Räume medial ausgestattet und wartet seit Herbst 2021 auf eben diese wenigen fehlenden Produkte. Während die noch nicht gelieferten Einbaurahmen nur einen temporären Schönheitsfehler bedeuten, verhindern die fehlenden Technikbauteile die Fertigstellung des zentralen Video-Konferenzraums. Der Raum ist im unfertigen Zustand somit nicht nutzbar. Und das ist kein Einzelfall. Aber etwa 80 % seiner Kunden warten geduldig und hoffen auf eine baldige Lieferung. „Bei den ungeduldigen Kunden sucht man nach einer Lösung mit alternativen Produkten, um die Verärgerung in Grenzen zu halten.“
Ein anderer Anbieter, der sich mit Digital Signage befasst: Er plant und liefert branchenspezifische interaktive Touch-Systeme. Doch seit Beginn der Pandemie richten sich Kalkulation und Planung immer stärker nach der jeweils aktuellen Verfügbarkeit der Medientechnik. In nur einem halben Jahr stieg der Preis der projektgeeigneten Displays um 50 %, und die Lieferzeit stieg unverbindlich auf 16 Wochen und länger.
Ein dritter Integrator hat einen Rahmenvertrag mit einem Großkunden und kann zugesagte Displays nicht mehr liefern. Ein Alternativprodukt ist minderwertiger spezifiziert und dabei 20 % teurer. Mit dem Kunden muss nun eine gütliche Einigung erzielt werden. Problematisch für diesen Integrator ist auch, dass bei Systemlösungen oftmals nur Teilkomponenten geliefert werden, womit das Gesamtergebnis erstmal gleich Null ist. Aus seiner Sicht ist es aktuell nicht möglich, eine Zusage wie „Lieferung auf Abruf“ zu bedienen, so wie er das in den letzten 20 Jahren „just in time“ handhaben konnte.
Der Verband der Elektro- und Digitalindustrie, kurz ZVEI, bestätigte auf seiner Jahrespressekonferenz Ende Januar dieses Jahres die Erfahrungen aus der ProAV-Branche: „Während zuletzt nur 8 Prozent der Firmen über unzureichende Aufträge berichteten, belasten Materialknappheiten und Fachkräftemangel 88 % beziehungsweise 41 % der Branchenunternehmen.“
„Im Jahr 2022 geht es nicht darum, Aufträge zu beschaffen, sondern die Ware für die Abwicklung der Aufträge zu beschaffen“, so der Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens aus der ProAV-Branche. Einerseits ist für Hersteller die Beschaffung von Rohstoffen und Vorprodukten erschwert. Andererseits haben die Auswirkungen der Pandemie zu einem erhöhten Bedarf an Hardware für den forcierten Einsatz von Arbeits- und Kommunikationstechniken geführt: Wenn die Hälfte der Wissensarbeiter plötzlich aus dem Homeoffice heraus arbeiten, wenn zusätzlich ein großer Teil von Schülern und Studenten im Kinderzimmer oder in der WG am Distanzunterricht teilnehmen oder mittels Hybridvorlesung studieren, wenn Unternehmen verstärkt Video-Konferenzräume, Huddle Rooms und Work Spaces für kollaborative Arbeitsstrukturen einrichten, dann führt das zu einer enormen Erhöhung der Nachfrage mit der fast zwangsläufigen Folge von Produktengpässen.
Für die ProAV-Hersteller und Lieferanten stellt sich die Situation sehr unterschiedlich dar. Während einige offensichtlich mit großen Lieferschwierigkeiten zu kämpfen haben, ergeben sich für andere Anbieter deutlich weniger Probleme. Sicher ist jedoch, dass praktisch jeder Anbieter in irgendeiner Weise betroffen ist. Wie bereits aus der Automobilbranche bekannt, betrifft der Halbleitermangel die Herstellung von Produkten direkt. Das gilt natürlich auch für elektronische Produkte der AV-Branche. Aber auch indirekt hat dieser Engpass Auswirkung: So nutzt es einem Hersteller von Displayhalterungen nichts, wenn er lieferfähig ist, aber die Nachfrage sich wegen Displaymangel stark verringert, so die Erfahrung bei der Firma Hagor Products. Sind Displays nicht verfügbar, werden eben erstmal keine Halterungen dafür abgerufen.
Auch bei Herstellern, die auf Mikrochips angewiesen sind, gibt es sehr unterschiedliche Auswirkungen, die damit zusammenhängen, welche Chipsätze in den Produkten verbaut werden. So trifft der Mangel an Intel-Chips nur einen Teil der Hersteller, diese dann aber massiv. Im Gegensatz dazu gibt es Hersteller, die überwiegend Mikrochips verbauen, für die praktisch kein Mangel existiert. Diese Firmen können problemloser liefern, so wie es die Firma ZeeVee gerade erlebt. „In unserem Produktportfolio gibt es einen eher geringen Geräteengpass, Alternativprodukte können die Lücke ggf. sogar schließen“, erklärt Jan Arne Rosenstein, Managing Director von ZeeVee Europe.
Doch der Mangel an Mikrochips ist nicht das einzige Hindernis. So fehlt es häufig auch an nötigem Zubehör. So berichtet Edo van der Gaag von MVD Europe beispielhaft von einem deutlichen Mangel an Netzteilen. Und hier zeigen sich die vielzitierten „gestörten Lieferketten“, die Hersteller und auch Lieferanten betreffen. Fehlende Rohstoffe und Vorprodukte verzögern die Herstellung. Fertige Produkte kommen stark verzögert an ihr Ziel. Gleichzeitig wechseln die Verfügbarkeiten in zeitlichen Wellen. Lieferanten berichteten von einer leichten Entspannung im vergangenen Sommer, aber neuerlich verschärften Lieferproblemen seit dem Herbst 2021. Lieferzeiten, beispielsweise für einzelne Komponenten der Video-Konferenztechnik, seien auf bis zu einem halben Jahr angestiegen, beschreibt Edo van der Gaag die Situation.
Bereits 2020 unter dem Eindruck der ISE (Integrated Systems Europe) befürchteten erste Entscheider bei Herstellern in der AV-Branche, dass es zu Engpässen kommen könnte. Hier sorgten rechtzeitige Materialeinkäufe für eine möglichst störungsfreie Produktion zur Sicherung der Lieferfähigkeit. „Das Management hat im großen Stil Bauteile aufgekauft. Unser CEO, Bob Michaels, kommt ursprünglich aus der Chip-Produktion und ahnte, was da auf uns zukommen würde“, berichtet Jan Arne Rosenstein. Schon vor der Pandemie beschäftigten sich Hersteller intensiv mit der Frage, wie „zukünftig gelernt und gearbeitet werden würde“, so VP EMEA Franck Racapé von PPDS. „Bei PPDS hatten wir auf der ISE 2020 sowohl unser Philips C-Line Collaborative Display für Unternehmensumgebungen als auch unser T-Line Interactive Education Display vorgestellt.“ Aus seiner Sicht hat die Pandemie die Nachfrage deutlich erhöht: „Hinzu kommt der vernetztere Ansatz, den Unternehmen verfolgen für die Erfüllung ihrer AV-Anforderungen. Dank unseres Produktionsumfangs waren wir jedoch weniger betroffen und konnten mit vorausschauender Planung Bestellungen und Nachfrage größtenteils erfüllen.“
Angesichts anhaltender Materialengpässe stellen einige Hersteller ihre Produktentwicklung um. „Wir führen weiterhin neue Produkte ein und entwickeln viele mit der Möglichkeit, Komponenten einfacher auszutauschen, was uns die Flexibilität gibt, auf andere Komponenten umzusteigen, wenn ein bestimmter Hersteller weiterhin Probleme mit der Lieferkette hat. Diese Herausforderungen treiben uns an, unsere Lieferkette und die Art und Weise, wie wir Produkte herstellen, weiter zu erneuern. Wir haben mehr Burst-Kapazität eingebaut, um Produkte schnell zu bauen, sobald Komponenten verfügbar werden. Wir bauen auch mehr Flexibilität in die von uns ausgewählten Komponenten ein und drängen uns dazu, Produkte zu entwickeln, die eine Vielzahl von Komponenten verwenden können, anstatt sich nur auf einen Hersteller zu verlassen“, beschreibt Brad Hintze, Executive Vice President Marketing, das Vorgehen bei Crestron angesichts der Engpässe. Was bei einem Mangel an Mikrochips sicherlich aufwendiger ist, fällt bei den beispielhaften Zubehörteilen leichter: So konnten Netzteilengpässe, die bei manchen asiatischen Herstellern auftraten, überwunden werden mithilfe von Netzteilen aus europäischer Drittanbieterproduktion.
Nicht alle, aber viele Lieferprobleme gehen auf die oft beschriebenen „gestörten Lieferketten“ zurück. „Kommt die Lieferung aus China oder auch aus Taiwan, so ist es schwierig, das Material überhaupt auf die Reise zu bringen. Der Schiffsweg ist ein Problem, der Flieger weniger. Wir haben auf Luftfracht gewechselt, das erhöht die Frachtkosten um das Drei- bis Fünffache, stellt Jan Arne Rosenstein fest. Matthias Jonek von Hagor weiß von Frachtkosten, die sich in Einzelfällen verzehnfacht haben. Zu schaffen macht auch der Schiffscontainermangel trotz einer Gesamtkapazität von ca. 40 Millionen Containern für die weltweiten Warenströme. Pandemiebedingt kehrten Schiffe beispielsweise leer nach China zurück, weil Wartezeiten in Zielhäfen zu lange andauerten, oder asiatische Häfen waren zeitweise gesperrt, so dass Waren nicht termingerecht verschifft werden konnten.
Es ist auch nicht verwunderlich, dass bei stark gestiegener Nachfrage durch die Pandemie die Lieferzeiten für Medientechnik explodieren. Der Hersteller Jabra hält Transparenz in dieser Situation für alle Beteiligten für wichtig. „Wir bei Jabra versuchen, die verfügbare Ware fair auf die verschiedenen Regionen, Vertriebspartner und Endkunden zu verteilen. Daher führen wir auch sehr viele Forecast-Gespräche mit unseren Partnern und kommunizieren Verfügbarkeiten und Lieferzeiten, so dass wir alle möglichst gut planen und die Endkunden informieren können. Vorkehrungen zu treffen ist in dieser Situation nicht so einfach, aber wir stehen natürlich immer im engen Kontakt mit Zulieferern und bestehen auf verlässliche Lieferversprechen. Zudem haben wir Transportwege beschleunigt“, berichtet Gregor Knipper, Managing Director Jabra Business Solutions DACH.
Auf die Zulieferprobleme reagierten Lieferanten und insbesondere Distributoren mit der Ausweitung ihrer Lagerkapazitäten. „Wir haben glücklicherweise relativ früh erkannt, dass Lieferengpässe auf uns und unsere Kunden zukommen werden und in enger Abstimmung mit unserem Vertrieb, dem strategischen Einkauf, unserem Businessmanagement und der Geschäftsleitung über die gesamte Gruppe hinweg umfangreiche Forecast-Bestellungen platziert. Wir wollten uns in der Pole Position befinden, wenn Ware auf dem Markt knapp wird, und wir haben uns dafür beispielsweise auch viele Restbestände von den Lieferanten gesichert. Auch dank der Unterstützung und Flexibilität unseres Logistikdienstleisters war es für uns ein Leichtes, ausreichende Lagerkapazitäten auf aktuell deutlich über 8.000 Quadratmeter zu schaffen“, so Marius Leverenz, Businessmanager bei Kern & Stelly zur Handhabung der problematischen Situation.
„Selbstbevorratung“ lautet auch die Lösung bei Exertis Pro AV: „Da der Warenbedarf überwiegend an Projekte gekoppelt ist und wir eine entsprechende Verfügbarkeit sicherstellen wollen, hatten wir bei Exertis Pro AV auch vor der Pandemie schon recht hohe Lagerbestände. Nach wie vor sind wir bei vielen Geräten sofort lieferfähig. Die nachbestellten Waren werden aber in den meisten Fällen mengenmäßig reduziert. Dies hat zur Folge, dass Lieferzeitangaben, im Vergleich zu vor der Krise, mehr als verdoppelt werden. Ich empfehle auf jeden Fall eine vorausschauende und langfristige Planung von Projekten, gepaart mit einer frühzeitigen Rücksprache mit dem jeweiligen Distributor und Hersteller. Dies ermöglicht uns eine verlässliche und professionelle Planung. Für unsere Kunden bzw. unsere Händler und Integratoren ist das sehr wichtig, damit Endkunden frühzeitig eine Rückmeldung über die aktuelle Liefersituation erhalten“, lautet der Rat von Michael Sänger, Vertriebsleitung Deutschland von Exertis Pro AV.
Mit der negativen Entwicklung der Lieferzeiten geht eine erhebliche Verteuerung der meisten medientechnischen Produkte einher, die von den Herstellern und Lieferanten an die Kunden weitergeben werden. Diese liegen in der Größenordnung 10 bis 20 Prozent.
Ob und wie bald eine Normalisierung eintritt, ist seriös nicht vorhersehbar. Fragen nach einer Normalisierung werden nicht oder nur sehr vorsichtig prognostiziert. Einige Hersteller und Lieferanten gehen von einer angespannten Lage bis zum dritten oder vierten Quartal aus, andere Hersteller von einer Normalisierung in einem Zeitraum von bis zu anderthalb Jahren.
Bereits im vergangenen Frühjahr gab es Hoffnung auf eine baldige Verringerung der Lieferbedingungen, die sich nicht erfüllte. Und so sollten Projektplaner und Integratoren tatsächliche Materialverfügbarkeiten für ihre Projekte und Installationen auch weiterhin sehr genau klären und Bestellungen möglichst frühzeitig platzieren. Denn aktuell weiß niemand, wie lange der Status Quo tatsächlich anhalten wird.