Grundlagen: Synchronisiertes, latenzarmes Audionetzwerk auf AVB-Basis
Was ist das Audio-over-IP-Protokoll Milan?
von Sven Schuhen, Artikel aus dem Archiv vom
Aktuelle Technologien für den Transport von Audiosignalen in Netzwerken müssen oft Kompromisse bei Zuverlässigkeit und Funktionalität eingehen. Milan soll nun als zeitsensitives Audio-Protokoll mit reservierten Bandbreiten basierend auf AVB den richtigen Schritt in die Zukunft machen.
IT-Netzwerke hatten bisher vor allem mit folgenden Einschränkungen zu kämpfen und waren daher nur unter bestimmten Voraussetzungen für professionelle AV-Anwendungen zu nutzen. Denn in der IT gilt der Grundsatz, Daten im Netzwerk möglichst schnell mit geringen Kosten und geringem Aufwand zu übertragen. Die Synchronisierung von Datenströmen oder gar präzise zeitliche Mechanismen waren in IT-Netzwerken bisher weitestgehend fremd.
Das bedeutet, dass solche Netzwerke verschiedene Daten zu verschiedenen Zeiten ausliefern. Meist eben nach dem Grundsatz „so schnell und effizient wie möglich“. In professionellen AV-Netzwerken sind jedoch relative, maximale Verzögerungen zwischen Signalen unter 50 Mikrosekunden, bei zeitkritischen Anwendungen sogar unter 2 Mikrosekunden gewünscht. Darüber hinaus wiederholen IT-Netzwerkprotokolle fehlerhafte Datenübertragungen, wenn zum Beispiel Zwischenspeicher unzureichend sind oder die Bandbreite nicht ausreicht, um die gewünschten Datenmengen gleichzeitig zu übertragen. Auch eine Drosselung der Datenübertragung kann durch einige Protokolle erfolgen, um diese Fehler zu minimieren. In allen Fällen verursacht dies aber weitere Verzögerungen zwischen unterschiedlichen Übertragungen. Bei der normalen Übertragung von Datenpaketen ist das verschmerzbar, in professionellen AV-Netzwerken jedoch ein ernstes Problem. Bisher wurde vor allem durch immer größere Zwischenspeicher versucht die Datenverluste in IT-Netzwerken zu verhindern, aber auch übermäßiges Zwischenspeichern verursacht inakzeptable Verzögerungen.
Um diese Probleme in den Griff zu bekommen, wurden „managed“ Netzwerkswitches, also Netzwerkverteiler mit einem intelligenten Betriebssystem entwickelt. In diesen Switches lassen sich allerhand strikte Regeln festlegen, wie welche Datenpakete im Netzwerk verteilt werden. Dies hat jedoch den Nachteil, dass diese Konfigurationen die Netzwerke auch unflexibel machen können, denn je nach Architektur müssen einige Switches mit jedem neuen Gerät im Netzwerk neu konfiguriert werden. Allerdings mit dem Vorteil nun vertretbare Verzögerungen zu erreichen und feste Bandbreiten für gewisse Anwendungen zu garantieren. CobraNet zum Beispiel basiert auf dieser Art von Architektur.
Da diese Art der Netzwerkes für einige nicht besonders zufriedenstellend waren, machte sich die Arbeitsgruppe 802.3 (Ethernet) der IEEE (Institute of Electrical and Electronics Engineers, Berufsverband von Ingenieuren aus dem Bereich Elektro- und Informationstechnik mit Sitz in den USA, der ähnlich dem deutschen Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik VDE Normen und Regeln herausbringt) an die Integration von AV-Streaming in Standard Ethernet-Netzwerken. Diese Standard Ethernet-Netzwerke existieren bereits seit mehr als 40 Jahren und wurden ebenfalls durch die IEEE entwickelt. Die Arbeit an der Idee, Audio und Video in Ethernet-Netzwerken zu streamen, wurde daraufhin an die Arbeitsgruppe 802.1 weitergegeben, da diese sich im speziellen mit allen sogenannten „cross networks“ also Systemüberschneidungen verschiedener Netzwerkarchitekturen befasst und hierfür sogenannte „bridges“ zu Verfügung stellt. Um möglichst breite Anwendungen abdecken zu können, sollte die Technologie von kleinen Privatanwendungen wie Heimkino bis hin zu höchsten professionellen Standards skalierbar sein. Diese Technologie bekam daraufhin den Namen „Audio Video Bridging“ und ist seitdem unter der Abkürzung AVB vielen ein Begriff.
Um diesen Standard nun auch in der Branche anzuwenden, haben sich verschiedene Hersteller von AV-Geräten und IT-Spezialisten zusammengetan und im August 2009 die AVnu Allianz gegründet. Im Gegensatz zu anderen Audio-Netzwerktechnologien, wie zum Beispiel Dante, das vom kommerziellen Anbieter Audinate entwickelt, zertifiziert und vor allem lizenziert wird, ist die AVnu Allianz eine non-profit Organisation, die einen offenen Standard verfolgt. Ziel der AVnu ist es Geräte innerhalb dieses offenen Standards zu zertifizieren, um sie interoperabel zu machen und die Entwicklung weiter voranzutreiben. 2013 hatte die Allianz schon über 60 Mitglieder. Derzeit führt Gary Stuebing als Präsident die Allianz an. AVnu verspricht hierbei die Kombination von Audiosignalen im Netzwerk mit Kontrollsignalen, ohne dass der Nutzer ein IT-Experte sein muss. So simpel wie analog. Und das mit 25 Mikrosekunden Latenz pro Switch, der zwischen zwei Endgeräten passiert wird.
Interessanter Aspekt ist, dass Audinate schon 2010 der AVnu beigetreten ist und AVB in Dante integrieren wollte. Mittlerweile hat der australische Hersteller dieses Vorhaben jedoch wieder offiziell zurückgezogen und bietet nun nur noch eine AES67-Kompatibilität. Aber der AES67 Standard ist mit seinen Spezifikationen so weit gefasst, dass eine Kompatibilität nur unter besonderen Voraussetzungen realisierbar ist. Einige Audio over IP-Experten sind jedoch der Meinung, Dante dürfe eigentlich nicht von einer generellen Kompatibilität sprechen. Zumal die Einbindung in AES67-Architekturen nur mit dem, für große Enterprise-Netzwerke vorgesehenen, Dante Domain Manager ermöglicht wird, für den eine gesonderte Lizenz von Audinate nötig ist.
Da die AVB-Spezifikationen ähnlich wie bei AES67 etwas zu umfangreich für die meisten AV over IP-Anwendungen sind, haben sich mehrere Hersteller wie AudioScience, Avid, Biamp, d&b audiotechnik, L-Acoustics, Luminex und Meyer Sound zusammengeschlossen und über eineinhalb Jahre an einer Idee gearbeitet, um ein (nach eigenen Aussagen) deterministisches, komfortables, zuverlässiges, funktionelles und zukunftsfähiges Netzwerkprotokoll speziell für den ProAV-Bereich zu entwickeln. Hierzu bietet der große Baukasten AVB mit seinen vielfältigen IEEE Standards alle Voraussetzungen, die für die speziellen Bedürfnisse professioneller AV-Distribution in IP-basierten Netzwerken nötig sind. Und unter dem Protokollnamen Milan (Media Integrated Local Area Networking) werden nun seit der InfoComm 2018 AVB-Geräte und Anwendungen für die AV-Branche separat zum AVB-Standard zertifiziert. Dabei wurde der Aufwand für die Einrichtung und das Management des Netzwerks auf ein Minimum vereinfacht.
Komponenten können nahezu Plug & Play integriert werden. Jedes zertifizierte Gerät kann sich mit jedem kompatiblen Gerät verbinden und eine Datenübertragung aufnehmen. Aufwändige Konfigurationen von Netzwerkkomponenten gehören der Vergangenheit an – das Netzwerk lässt sich beliebig und flexibel skalieren. Nutzer müssen nicht länger IT-Experten sein, um vernetzte Systeme mit Milan aufzubauen. Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil auch bei Planung, Projektentwicklung und Wartung, da hier durch den geringen Aufwand auch weniger Kosten für Einrichtung und Betrieb anfallen.
Henning Kaltheuner, Leiter Business Development und Market Intelligence bei d&b Audiotechnik, sagt, dass die aktuellen Netzwerkstandards oft Kompromisse bei der Zuverlässigkeit und Funktionalität des Systems eingingen. „Die Zukunft kann nicht mit bestehenden Standards erfüllt werden“. Weiter argumentiert er: „es gibt keinen Zweifel, dass AVB eine überlegene Technologie ist und viele Menschen dies als Technologie der Zukunft betrachten“. Was sich auch in den Statements anderer Hersteller bestätigt. „Wir wollen jetzt die gesamte Netzwerkdebatte auf den wahren Produktwert fokussieren“, sagt Kaltheuner weiter.
Wie bei AVB ist Milan zeitsensitiv und nutzt spezielle Mechanismen, um sich zu synchronisieren. Die reservierten Bandbreiten erlauben auch andere Anwendungen im selben Netzwerk, ohne dass AV-Übertragungen dadurch beeinträchtigt werden. Außerdem unterstützt Milan das „Advanced Media Clocking“ um mehrere Subsysteme unabhängig voneinander entweder auf der gleichen oder auf verschiedenen Abtastraten im gleichen Netzwerk zu betreiben.
Als offener Standard ist Milan nicht von Dritten abhängig und wird sowohl durch die fortsetzende Entwicklung bei AVB durch die IEEE als auch durch die hinter Milan stehenden Unternehmen stetig ausgebaut. Die Zertifizierung wird dabei nach hohen Standards durch die AVnu durchgeführt. Da die Standards der IEEE auf eine lange Tradition zurückblicken, ist zu erwarten, dass das auf AVB basierende Milan noch lange Zeit Stand der Technik bleiben wird.
„Nach sorgfältiger Überlegung, was Endbenutzer erreichen wollen und den Herausforderungen und Risiken, die mit der Verwendung anderer Protokolle verbunden sind, war AVB die perfekte Wahl für die Implementierung eines qualitativ hochwertigen Mediennetzwerks“, sagt Jeff Rocha, Direktor für Produktmanagement bei L-Acoustics. „Wir erkennen auch, dass bisher über die Netzwerkbasis hinaus keine Interoperabilität auf Anwendungsebene definiert wurde. Diese Interoperabilität auf Anwendungsebene ist entscheidend, um die Versprechen von AVB einzulösen: also einfacher und zuverlässiger Netzwerkbetrieb sowie garantierte Leistung und Nachhaltigkeit. Milan nutzt die Vorteile von AVB, um eine benutzergesteuerte Lösung für AV-Netzwerke bereitzustellen, die die Interoperabilität zwischen professionellen AV-Geräten gewährleistet.“
Milan beruht auf dem Standard IEEE1722.1-2013 für die automatische Suche nach kompatiblen Geräten im Netzwerk, dem Verbindungs-Management und einem Überwachungsprotokoll. Dieser Standard ist sehr umfangreich und erlaubt viele unterschiedliche Anwendungen. Daher wurde für Milan ein spezielles Profil entwickelt, dass die Bedürfnisse professioneller Audioanwendungen mit einem kleinen Teil dieses Standards abdeckt und Interoperabilität schon auf der Kontrollebene ermöglicht. Dabei nutzt Milan die Möglichkeit aus AVB, redundante Übertragungspfade zu erstellen, um AVB-Geräten die Möglichkeit zu geben eine Vielzahl von Netzwerkfehlern auszugleichen.
Milan definiert drei Übertragungsformate für professionelle Audiogeräte, die im Standard IEEE 1722-2016 „AAF Audio Format“ beschrieben werden. Der Vorteil von AAF ist dabei, dass es weniger komplex und deutlich effizienter ist als AM824. Das Standard-Stream-Format AAF wird mit 32-bit aufgelöst, mit 48 kHz, 96 kHz oder 192 kHz getaktet und kann 1, 2, 4, 6 oder 8 Audiokanäle beinhalten. Dazu gibt es noch einen High Capacity 32-bit Stream (HC32). Der HC32 dient zum effizienten Transport einer hohen Kanalanzahl. Auch der HC32-Stream erfolgt im AAF-Format und wird mit 48 kHz oder 96 kHz getaktet. Bei 48 kHz kann der HC32-Stream 16, 24, 32, 40, 48 oder 56 Kanäle beinhalten, bei 96 kHz 16 oder 24. Darüber hinaus bietet Milan noch einen weniger hoch aufgelösten 24-bit Stream (HC24), welcher eine noch höhere Kanaldichte erlaubt.
Die Unterstützung von 48 kHz getakteten Signalen ist für Milan-Geräte absolute Voraussetzung, 96 kHz und 192 kHz dagegen können optional gesehen werden. Allerdings müssen Geräte mit 192 kHz zwangsläufig auch 96 kHz unterstützen. Die Samplerate muss bei jeder unterstützten Frequenz auch für alle drei Übertragungsformate implementiert und die durch Milan definierten Kanalzahlen unterstützt werden. Eine Ausnahme bilden Milan-Talker, die bei einem Übertragungsformat nur jeweils eine der vorgegeben Kanalzahlen unterstützen müssen. Geräte, die jedoch das Übertragungsformat HC24 unterstützen, müssen zwangsläufig auch das HC32-Format unterstützen. Diese Voraussetzungen gelten jedoch nur für das Senden und Empfangen von Audiostreams, die interne Verarbeitung darf dabei auf jeder beliebigen Frequenz mit beliebiger Auflösung erfolgen.
„Wir haben ein spezifisches Regelwerk und Richtlinien festgelegt, mit denen Hersteller Produkte mit den gleichen Anforderungen erstellen können – für Medienströme, Formate, Taktung und Redundanz – und das ist die Basis für Milan“, sagt Henning Kaltheuner. Für die Kompatibilität mit Milan haben unter anderem die Hersteller Extreme Networks, Cisco, Luminex und Control4 entsprechende Switche in ihr Portfolio aufgenommen. Die Gigacore Switche von Luminex wurden im Februar von der AVnu für AVB/Milan zertifiziert, Cisco hat mit dem Switcher Catalyst 3650 ein bereits 2018 zertifiziertes Gerät im Programm. Als erstes kam jedoch Extreme Networks schon Ende 2013 mit AVB-zertifizierten Bridges der Summit-Serie auf den Markt.
Im Juni 2018 hat die AVnu eine große Dokumentation zu den Spezifikationen von Milan zu den Themen Media Clocking Interoperability, Milan Formats Interopability, Milan Redundancy Specification sowie ein Milan Whitepaper herausgebracht, um interessierte Hersteller mit weitergehenden Informationen für die Entwicklung eigener Produkte unter dem Standard zu versorgen. Der Zertifizierungsprozess wird gerade noch final ausgearbeitet und soll in Kürze zu Verfügung stehen.
Zur ISE 2019 hat L-Acoustics eine frei verfügbare AVDECC-Bibliothek veröffentlicht, die jetzt mit Milan kompatibel ist. Diese Open-Source-Bibliothek bietet eine Reihe von Tools zur Steuerung von AVB- und Milan-Geräten mithilfe des AVDECC-Protokolls (IEEE1722.1) und entspricht den AVnu Milan Spezifikationen. „Die Mitglieder von Milan haben in den letzten sechs Monaten fleißig hinter den Kulissen gearbeitet und wir freuen uns, die ISE als Forum zu nutzen, um die Dynamik und den Fortschritt von Milan zu demonstrieren und die Bühne für Milan im Jahr 2019 herzurichten. Wir verfügen jetzt über die vollständige Suite von Milan-Spezifikationsdokumenten, die fast zwei Jahre Arbeit von Mitgliedern technischer Arbeitsgruppen und engagierten Herstellern darstellen. Diese stellen nun die Werkzeuge und Ressourcen für die korrekte Implementierung des Protokolls bereit“, sagt Tim Boot von Meyer Sound, Vorsitzender der AVnu ProAV-Arbeitsgruppe.
Frühzeitige Anwender: alfamation, Audix, Cetitec, trarii, Caict, Control 4, Dasan, DDC, excelfore, Hirain, Desay SV, Realtek, EPT, Hinge, Dotrust, Synopsys, Toshiba Information Systems
Ausblick
In der nächsten Ausgabe PROFESSIONAL SYSTEM werden wir AVB, auf dem das Milan-Protokoll beruht, näher unter die Lupe nehmen. Außerdem werden wir den Unterschied der Layer-2-Technologie gegenüber den Ethernet-Protokollen wie Dante, Ravenna und weiteren erklären, die auf Layer-3-Ebene agieren. Weiterhin geben wir eine Übersicht, welche Hersteller sich mit welchen Produkten oder Ideen bereits bei Milan engagieren und warum andere Hersteller das Thema vorerst noch beobachten oder ein Engagement völlig ausschließen. Darüber hinaus werfen wir einen Blick in die Zukunft und zeigen auf, was man in nächster Zeit noch von Milan und den Herstellern in der Initiative erwarten kann.